Wer wie ich jeden Tag mit dem Zug fährt, der wird dieses Pendlerdasein irgendwann als Quell für allerlei Alltagsgeschichten sehen. Und ein paar der Geschichten, die ich hier zusammengetragen habe, werden häufigen Zugfahrern auch bekannt vorkommen. Meine Damen und Herren, bitte machen Sie die Türen frei und steigen Sie ein:
In voller Hormonblüte
Donnerstag, es ist später Nachmittag, ich sitze im Zug nach Köln neben zwei Teeniemädels und höre zu:
Teenie 1: Ey…(gelangweiltes Kaugummikauen und Blick auf die Freundin).
Teenie 2: tippt auf dem Smartphone herum
Teenie 1: Ey…wem schreibste?
Teenie 2: Niklas
Teenie 1: Stresst der wegen Kira?
Teenie 2: Nö, aber lass mal was machen.
Teenie 1: Ja, cool…schreib dem mal wie down du bist und so.
Teenie 2: Ja ich schreib einfach: „Niklas, ich kann nicht mehr“…dann tickt er aus und kriegt Panik, dass ich Kira von uns erzähle.
Teenie 1: Und wie is es mit Niklas denn eigentlich so? tippt nun ebenfalls auf ihrem Smartphone herum
Teenie 2: Unbequem…
Teenie 1: Wieso unbequem?
Teenie 2: Na wir haben es halt im Badezimmer gemacht. Da is es unbequem. Mit wem hattest du eigentlich dein erstes Mal?
Teenie 1: Mit Heinrich.
Teenie 2: Iiiihhh…also ich mit Tim.
Teenie 1: Ja Tim ist voll cool, mit dem kann ich super offen über Sex reden, echt über alles.
*Das Smartphone von Teenie 2 piept*
Teenie 2: Oh Gott Niklas hat geschrieben *aufgeregtes Gegiggel*
Teenie 1: Und, was sagt er? Hat er Panik?
Teenie 2: Er schreibt nur, dass er mir den Hals umdreht, wenn ich irgendwas rauslasse.
Das Leben ist zu kurz für einen Bahnsteig
Mit den Pendlerzügen ist an den Bahnsteigen ein ausgeklügeltes Ballett der erfahrenen Pendler zu beobachten. Irgendwann hat man durch die tagtägliche Fahrerfahrung den Dreh raus: Wo hält die Zugtür, wie muss ich mich positionieren, um möglichst schnell in den Zug und damit möglichst früh an einen Sitzplatz zu kommen? Nach und nach hat jede und jeder seinen Stammplatz am Bahnsteig gefunden, die zufriedene Routine des erfolgreich erschlossenen Reviers kehrt ein. Ab und an nur empfindlich gestört durch einen zufälligen Passagier, der die Stammplätze der Pendler noch nicht kennt, sich dreist an jahrelang erprobte Plätze stellt oder gar beim Einsteigen mit einem Koffer die ausgeklügelte Choreografie der lang Erprobten in Gefahr bringt. Und ab und an geschieht etwas schier Unvorstellbares: Beim Autofahren, da gibt es die vorsichtigen, die tollkühnen, die unsicheren und die routinierten Fahrer. Doch gibt es die auch im Zugverkehr? Hier sind wir meist auf die äußeren Umstände wie Pünktlichkeit und technische Störfreiheit konzentriert. Nicht aber auf den Fahrstil des Lokführers. Bis eben das Unvorstellbare passiert. Der Zug wird angekündigt. Die routinierten Pendler gehen auf ihren Startplätzen in Position auf den zu ergatternden Sitzplatz. Der Zug fährt ein. Nein, er rauscht in den Bahnhof. Gefühlt zu schnell. Definitiv zu schnell. Die eigentlich vertraute Tür hält nicht am angestammten Platz. Rauscht vorbei, außer Sichtweite. Der ganze Zug kommt ächzend und quietschend zum Stehen. Außerhalb des Bahnsteigs. Der Zugfahrer hat sich mitreißen lassen und war zu schnell. Verwirrung am Bahnsteig, die Routine ist gestört.
Im Gespräch bleiben
Jeder Pendler entwickelt im Laufe seiner Pendelkarriere gewisse Anpassungsstrategien, um sich im Gequetsche der Mitreisenden ein kleines bisschen Privatheit zu bewahren. Übergroße Kopfhörer, die zuverlässig alle störenden Außengeräusche dämpfen zum Beispiel. Bücher, die es erlauben für die Zeit der Fahrt in eine andere Welt einzutauchen. Die Zeitung, die sowohl Sichtschutz als auch Platzhalter ist. Der Sekundenschlaf, zuverlässiger als eine Dosis Morphium. Oder das Telefon/Smartphone. Gerade im Gespräch mit einem anderen Menschen an einer anderen Leitung scheint man besonders gut seine Umgebung vergessen zu können. Egal ob man Schulter an Schulter steht und der physisch präsente Mitfahrer jedes Wort ins Ohr gehaucht bekommt, bevor es in der Sprechmuschel des Telefons verschwindet. Erstaunlich wie zutraulich man Intimstes einer ganzen Welt von Mitfahrern preis gibt, wenn man sich geschützt durch eine Handyhülle wähnt. Von Trennungen und Beziehungskrisen ist da die Rede, von Bewerbungsstrategien und Terminkoordinierung, von Bepflanzungsplänen für den Garten einer Kollektive, vom Streit im Kleinen ob nun Tanne oder Buche und vom Streit im Großen, ja du solltest dich trennen. Definitiv solltet ihr alle Euch trennen: vom Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung.
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